Dienstag, 21. August 2012

BITTE NICHT SELBSTÄNDIG!


Die Jobcenter Deutschlands setzen in der Regel nur die gesetzlichen oder verwaltungsrechtlichen Vorgaben um. Dass es davon einige Unsinnige gibt, ist mittlerweile selber den unsozialsten Hardcorekapitalisten unseres Landes, und darüber hinaus, bewusst. Die Regelungen zur Aufnahme und Unterstützung einer selbständigen Tätigkeit sind allerdings dermaßen unsinnig und irrational, dass man sich nur Fragen kann, welch komplett Verwirrten sich diese Maßgaben ausgedacht haben.

Zum Verständnis muss folgendes erklärt werden:

ALG II ist die Leistung zur Grundsicherung des Lebensunterhaltes. Aus der Natur der Sache heraus kann man mit ALG II Bezug keinerlei Vermögen ansparen. Ebenso wenig wie Investitionskapital. In der Vergangenheit gab es immer wieder verschiedene Förderinstrumente, die nie jemand verstanden hat, weder die Bedürftigen, noch die Sachbearbeiter/ Fallmanager/ Arbeitsvermittler. Von der „Ich-AG“ über Gründungszuschuss bis zur Freien Förderung hat der Sozialmarkt schon alles gesehen. Und alles mit dem Selben schlechten Ergebnis. Nachhaltig ist eine Erfolgsquote von durchschnittlich 15 % Selbständigen, die länger als 2 Jahre selbständig bleiben, wohl nicht. Der gesamte Markt hat sich bei 70 % reguliert, ansonsten gibt es eine gesunde Marktbereinigung bei ca. 50 % Pleiten/ Schließungen und Neueröffnungen. Warum ist das so?

Zum einen ist die Allmacht der Sachbearbeiter ein klares Indiz für das Scheitern einer jeden sinnvollen Aufnahme einer Selbständigkeit. Alle Förderinstrumente, ESG (Einstiegsgeld) und Freie Förderung (Barmittel bis 5.000,- € als Zuschuss und/ oder Darlehen), sind Kann-Bestimmungen, werden also durch die Sachbearbeitung ent- und beschieden. Problem ist nur, dass hier keine Vollkaufleute sitzen, sondern vom Markt losgekoppelte Verwaltungsangestellte. Dazu kommt die gesetzliche Vorgabe, dass die Anträge auf Fördermittel für die Selbständigkeit erst NACH ERFOLGTER Gewerbeanmeldung abgegeben werden können. De facto gibt es also keinen Spielraum mehr für die Gewerbetreibenden, da ja die Selbständigkeit bereits vorliegt, also vor der Entscheidung der Fördermittel bereits ein Faktum geschaffen wurde. Sollte dann der/ die Selbständige auch schon gute Umsätze machen, ist die Förderung, nach der Logik der Jobcenter, bereits sinnlos, da ja Investitionen aus den laufenden Einnahmen getätigt werden können. Dieses System ist, charmant betrachtet, mindestens als pervertiert zu bezeichnen. Und die Sachbearbeiter/ Innen genießen sichtbar diese Allmacht über die bereits Selbständigen (Bettler).

Ein weiterer Fallstrick ist die EKS (Einkommensvorausschau). Hier muss der zukünftige Unternehmer seine voraussichtlichen Einnahmen dem Leistungsteam und dem Team für Selbständige vorlegen. Alles Schätzungen wohlgemerkt. Gibt er diese EKS nicht ab, worauf er selbstverständlich auch niemals hingewiesen wird, wird „vorsorglich“ die gesamte Leistung eingestellt. Im Bezirk Neukölln von Berlin wurde jetzt extra ein neues Kompetenzteam Selbständigkeit strukturiert. Natürlich ohne Erfolg, da dort alle unliebsamen Mitarbeiter/ Innen abgelegt werden, die in den normalen Abteilungen nicht gewollt wurden. Auch wird nicht etwa mitgeteilt, worauf die besondere Kompetenz dieser Mitarbeiter beruhen soll, auf eine Anfrage wurde bis heute, erwartungsgemäß, nicht reagiert.

Besonders schwachsinnig und rechtswidrig mutet an, dass also folgender Sachverhalt ständig in der Praxis auftritt: ALG II Empfänger/ In möchte aus dem Leistungsbezug raus. Dafür wird sorgfältig die Selbständigkeit geplant. Mit Eingliederungsvereinbarung, Businessplan, Gewinnvorausschau, Liquiditätsplan, Gründerseminar, Kostenvorausschau Gewerbe und Privat, Angeboten in dreifacher Ausfertigung etc. Es wird ein Bedarf ermittelt, an Investitionen, bis 5.000,- €, der dann beantragt wird. Mit bereits erfolgter Gewerbeanmeldung. Dann sagt das Jobcenter nach ca. 2-3 Monaten nein zur Förderung, und stellt die Leistungen ein, weil der die Selbständige keine EKS, die auch nie verlangt wurde, abgegeben hat. Besonders schlimme Fälle: Kundin hatte bereits Büroräume angemietet, Kunde hatte bereits Ware bestellt. Als besonders perfide sind die (schriftlich vorliegenden) Hinweise zu bezeichnen, dass bei der Neugründung und Neueinrichtung auch Gebrauchtmaterialien zu verwenden sind. Dass damit auch das das unternehmerische Risiko erheblich steigt, interessiert zumindest im Kompetenzteam Neukölln niemanden. Besondere Highlights waren hier die Hinweise auf gebrauchte Küchengeräte und Kaffeemaschinen. Aus welchen ökologischen und hygienischen Erwägungen heraus ein Mensch überhaupt solch eine Idee entwickeln kann, ist schleierhaft. Und das Finanzamt und Gewerbeamt mischt auch noch mit. Das natürliche Ende von ca. 60 % der Gründungen aus ALG II: Überschuldung bis hin zur Insolvenz.

Fazit:

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit, die Selbständigkeit auf einen späteren Zeitraum anzumelden. Damit setzen Sie das Jobcenter unter Druck, da ja noch keine Gewerbetätigkeit begonnen hat (Beispiel: Gewerbeanmeldung am 02.06.20xx, Beginn der Tätigkeit 01.09.20xx). Lassen Sie sich genügend Zeit bei der Planung, lassen Sie sich niemals durch Mitarbeiter/ Innen der Jobcenter unter Druck setzen. Prüfen Sie sich und Ihr Umfeld genau, ob eine Selbständigkeit tatsächlich das Richtige für Sie ist.

Und seien Sie wirklich bereit, das Gewerbe auch wieder abzumelden (zumindest in Berlin kostenlos). Sie ersparen sich dann viel Ärger.



Patrick Schiffler
Freier Journalist
Sozialberater – Schuldenberater - Justizopfer
Ladungsfähige Anschrift:
Schudomastr. 32
12055 Berlin